Minimalisten leben in winzigen, vollständig weiß gestrichenen 1-Raum-Wohnungen, schlafen auf Matratzen auf dem Boden neben ihren restlichen exakt 99 Besitztümern, die allesamt in eine kleine Reisetasche passen.

Dies entspricht, so oder so ähnlich, wohl bis heute, wo das Thema bereits seit Jahren längst im Mainstream angelangt ist, dem Bild, welches vielen Menschen in den Sinn kommt, wenn sie an einen “Minimalisten” denken.

Es entstammt der gleichen Schublade, wie die Aussagen “Veganer essen den ganzen Tag nur Salat” und “Nerds haben kein Sozialleben”. Sie sind nicht nur zumeist falsch - während es tatsächlich Minimalisten geben mag, die wie oben beschrieben leben, wird man sich doch recht schwer tun, einen Veganer zu finden, der sich ausschließlich von Salat ernährt und es sollen sogar schon Nerds in freier Wildbahn gesichtet worden sein. Sie demonstrieren darüber hinaus leider in gewisser Weise auch eine vorauseilende Ablehnung gegenüber dem Neuen und der Veränderung.

Minimalismus ist nicht neu

Der Gedanke eines minimalistischen Lebens existiert bereits seit Jahrhunderten. Hier ein Zitat aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.:

Das Aussortieren des Unwesentlichen

ist der Kern aller Lebensweisheit.

- Laozi, chinesischer Philosoph -

Doch auch nach all den Jahren liegt eine der größten Schwierigkeiten, aber zugleich vielleicht auch die größte Stärke des Minimalismus, in einer fehlenden allgemeingültigen Definition.

So bedarf es einerseits in der Regel einiger Ausschweifungen, um Freunden und Familie zu erklären, was man da überhaupt macht und weshalb man diesen Lebensstil für sich gewählt hat. Andererseits hat es einen enormen Vorteil, dass es eben gerade kein starres Dogma, keine festen Vorgaben gibt. Die einen nennen sich Minimalisten, weil sie weniger als eine bestimmte Anzahl an Gegenständen ihr Eigen nennen, die anderen, weil ihr Kleiderschrank eine bestimmte Größe nicht überschreitet und wieder andere verzichten auf bestimmte Dinge, wie ein Auto, einen Fernseher oder das Internet.

Mehr als nur minimieren

Trotzdem Minimalismus größtenteils mit Reduktion verbunden wird, geht es dabei gar nicht notwendigerweise um das Weniger oder den Verzicht. Und obwohl es sich bei den Allermeisten ganz von selbst ergibt, sobald sie sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzen, ist es dennoch nicht das Trennen von Dingen, das den Minimalisten ausmacht.

Eine der für mich eingängigsten Formulierungen dessen, was einer Definition wohl am nächsten kommt, ist die folgende:

Minimalism is the intentional promotion

of the things we most value

and the removal of everything

that distracts us from it.

- Joshua Becker -

Auch hier findet sich also der Gedanke der Reduktion wieder, jedoch steht er nicht im Fokus der Aussage. Vielmehr geht es beim Minimalismus in erster Linie darum, sich selbst zu verstehen und die Dinge zu erkennen, die uns wichtig sind.

Und mit Dingen sind in diesem Fall ausdrücklich nicht nur Gegenstände gemeint. Es geht dabei um Menschen und Beziehungen, um Leidenschaften, um Träume und die Vorstellung vom individuellen perfekten Leben.

Erst im zweiten Schritt gilt es dann, all den Ballast abzuwerfen, der uns daran hindert, dieses perfektes Leben zu führen. Dies können Freunde sein, die uns nicht gut tun, vermeintliche Passionen, die längst nur noch als Last gesehen werden, oder Ansichten, denen wir innerlich längst entwachsen sind, an denen wir jedoch aus den verschiedensten Gründen immer weiter festhalten.

Freiheit bewusst erleben

Minimalismus sorgt einerseits für mehr Fokus, gleichzeitig aber auch für die nötige Freiheit, sich selbst (neu) zu definieren, ohne dabei selbst eine Belastung zu sein. Es gibt keinen “Anführer”, dem man es Recht machen müsste, keine Regeln zu befolgen. Nur sich selbst.

Am Ende geht es nur darum, das eigene Leben und die eigene Umgebung bewusst so zu gestalten, dass sie von einer Belastung, vor der man am liebsten davonlaufen möchte, zu einer Oase wird, in die man sich immer gern zurückzieht, wenn die Welt da draußen mal wieder im Chaos versinkt.

Das kleine Wort “bewusst” ist hier von besonderer Bedeutung. Wie oben bereits angemerkt, geht es eben nicht darum, wie viele Gegenstände sich in einem Haus befinden, die Zahl der Freunde, oder gar die Höhe des Einkommens.

Es geht einzig darum, dass möglichst viel von dem, was sich in deinem Leben befindet, dort ist, um es zu bereichern und dich dabei unterstützen, so zu leben, wie du es ganz persönlich für richtig hältst.

Don’t keep anything

that you don’t consider

useful or beautiful

- Marie Kondo -

Diese Büchersammlung, die du aufbewahrst, weil deine Großeltern sie dir vermacht haben, obwohl du nie auch nur eine Seite daraus gelesen hast. Die vielen Klamotten, die du noch hast, weil sie einst viel Geld gekostet haben, obwohl sie längst nicht mehr zu dir passen. Der Mensch, den du noch immer “Freund” nennst, obwohl du jedesmal eine neue Ausrede findest, um nicht länger als fünf Minuten mit ihm sprechen zu müssen.

Sie alle sind lediglich negative Anker, die dich zurückhalten, während du längst zu neuen Ufern und neuen Abenteuern aufbrechen willst.

Das Bücherregal oder der Kleiderschrank nehmen dir unter Umständen den Platz, den du bräuchtest, um eine Staffelei aufzustellen und endlich mit dem Malen zu beginnen. Der sogenannte Freund kostet dich nur Nerven und wertvolle Zeit, die du stattdessen mit den Menschen verbringen könntest, die dir tatsächlich etwas bedeuten.

Das Leben ist ein Konzert

Man stelle sich das Leben als ein Konzert vor. Eine ganz private Veranstaltung, die man vor einer großen leeren Bühne beginnt. Nach und nach betreten verschiedene Künstler die Bühne. Zunächst vielleicht eine Sängerin, deren Stimme du überwältigend gut findest. Gefolgt wird sie von einem Gitarristen, der die schönsten Melodien spielt, die du je gehört hast. Nach einer Weile erscheint ein Mann an einem Klavier, später ein weiterer Sänger, ein Bassist, eine Violine, ein Schlagzeug, ein Cello…

Schon bald ist die ganze Bühne gefüllt mit großartigen Talenten. Doch so schön du jedes einzelne Instrument für sich genommen findest, so schrecklich ist das, was dieses Ensemble dort zusammen ertönen lässt.

Nun ist es an der Zeit, sich von einigen Künstlern zu verabschieden. Doch von wem? Es gilt, sich auf die einzelnen Instrumente und Stimmen und deren Zusammenspiel zu fokussieren, um diejenigen herauszufiltern, deren gemeinsames Schaffen etwas ergibt, das für dich ganz persönlich harmonisch klingt.

Minimalismus verringert das Rauschen,

um den Klang der eigenen Persönlichkeit

wieder deutlich zu hören.

Minimalismus? Kenn’ ich! Was nun?

All diese Veränderungen passieren nicht an einem Tag. Ziemlich sicher auch nicht in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr. Minimalismus ist kein Punkt auf einer Liste, den man abhaken kann, wenn man damit fertig ist.

Vielmehr ist es ein Prozess, in dem es darum geht, sich immer wieder neu zu entdecken und die Freiheit zu haben, nicht immer nur das zu tun, was andere von einem erwarten, sondern sein eigenes Leben selbst zu bestimmen.